Ulrike Dobelstein-Lüthe

Ein Beitrag von Ulrike Dobelstein-Lüthe
Geschäftsführerin der Fürstenberg Foundation


Uli, 54

Wenn ein Kind die Diagnose ADHS erhält, beginnt für viele Familien eine herausfordernde Reise voller Fragen, Unsicherheiten und Hürden – aber auch mit wertvollen Erkenntnissen und besonderen Momenten. Ulrike und ihr Mann nahmen ihren Sohn Sandro im Alter von eineinhalb Jahren bei sich auf.

Seine Vorgeschichte war geprägt von Vernachlässigung und Unsicherheiten, die sich auch in seinem Verhalten widerspiegelten. Früh fiel auf, dass Sandro anders war – impulsiver, unruhiger, mit Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren.

Doch es dauerte Jahre, bis die Familie die Diagnose ADHS erhielt – ein Moment, der mehr Erleichterung als Schrecken brachte, weil er endlich eine Erklärung lieferte.

In diesem Interview spricht Ulrike offen über die Tiefen und Höhen des Alltags mit einem Kind, das mit ADHS lebt. Sie erzählt von den Herausforderungen in Schule und Familie, von Vorurteilen und Unterstützung, aber auch davon, was ihr und Sandro hilft, ihren eigenen Weg zu finden. Ein Gespräch über Durchhaltevermögen, Liebe und die Notwendigkeit, unser Schulsystem und den Umgang mit psychischen Erkrankungen zu überdenken.

Ulrike Dobelstein-Lüthe: Wer bist und wie alt bist Du? Bitte beschreib Dich und Dein Leben in 3-5 Sätzen.

Uli: Ich bin ein sehr offener, wissenshungriger, emphatischer, spontaner, emotionaler Mensch. Stillstand mag ich nicht, den Schritt raus aus der Komfortzone finde ich immer wieder aufs Neue spannend. Damit verbunden sind aber auch sehr hohe Anforderungen an mich selbst und an mein Umfeld. Den damit verbundenen, manchmal für alle nervigen Perfektionismus und die Monk-Anteile in mir, kriege ich ein Glück immer besser in den Griff. Das zeigt, dass man auch mit 54 Jahren immer noch lernfähig ist 😉


Wer ist in Deinem familiären Umfeld erkrankt? Und mit welcher Diagnose?

Eine unserer täglichen Herausforderungen ist die ADHS Diagnose unseres Sohnes.


Wann wurde bei deinem Sohn ADHS diagnostiziert, und wie war diese Diagnose für dich als Mutter?

Dass Sandros Aufmerksamkeitsspanne nicht sehr ausgeprägt ist, fiel schon im Kindergarten auf. Schon damals fingen wir an, mit einer Kindertherapeutin zusammenzuarbeiten. Die Zusammenarbeit war für uns als Eltern schwierig, die Wellenlänge hat nicht gestimmt. Da Sandro gerne zu ihr ging, haben wir es aber bis zur Einschulung durchgezogen. Wir als Eltern und auch die Erzieherinnen des Kindergartens waren uns einig, dass wir versuchen sollten, für die Schulzeit einen Schulbegleiter für Sandro zu kriegen. Das Gutachten, das wir damals von der Therapeutin gebraucht hätten, haben wir nie bekommen, da sie von dem System Schulbegleitung nichts hielt.

Bis wir es dann endlich geschafft haben, vergingen die ersten drei Schuljahre… Durch einen Zufall sind wir auf eine Lernpädagogin gestoßen, die uns aufgeklärt hat, was wir zu tun haben, welche Gutachten wir benötigen, sie hat uns mit Adressen versorgt und gefühlt sind wir durch sie das erste Mal auf den richtigen Weg gebracht worden. Zu Beginn des vierten Schuljahres bekamen wir die Diagnose, was dann eigentlich mehr Erleichterung als Schrecken war, denn nun hatten wir endlich etwas in den Händen, um weitere Hilfe zu beantragen.


Wie hat euer Umfeld auf die Diagnose reagiert?

Wir leben in einem sehr behüteten Umfeld, die Kinder meiner Geschwister laufen komplett geradeaus. Da fielen mein Mann und ich schon alleine mit der Idee, Pflegekinder aufzunehmen, aus der Rolle. Man hat sehr schnell gemerkt, dass unsere Probleme nicht so wirklich in die Welt der anderen passen. Ich habe oft das Gefühl, dass zwar verständnisvoll reagiert wird, man es aber nicht schafft, bis zur Tiefe zu erklären, was die Diagnose bedeutet. Ich fühle mich oft nicht verstanden, reagiere schon vorbeugend mit Kampf- und Verteidigungsmodus oder ziehe mich zurück. Vielleicht ist man aber auch irgendwann übersensibel und interpretiert Aussagen und Reaktionen falsch.Im weiteren Umfeld stellte sich sehr schnell heraus, dass wir ganz und gar nicht alleine sind und dass es viele Kinder gibt, die ihre Themen haben.


Gab es vor der Diagnose Anzeichen, die dich vermuten ließen, dass etwas anders ist?

Einige… geringes Aufmerksamkeitsvermögen, Wutanfälle, sehr unruhige Nächte, „Futterneid“… Durch Sandros Vorgeschichte war es für uns aber schwierig einzustufen, wo der Ursprung lag. Wir sind in die Situation hineingestolpert und mussten uns erstmal selbst orientieren, haben natürlich auch auf Empfehlungen vom Jugendamt gehört. Heute beispielsweise würde ich sofort eine Therapie abbrechen, wenn ich das Gefühl habe, dass die Zusammenarbeit mit der Expertin nicht passt.


Welche Herausforderungen erlebst du im Alltag, zum Beispiel in der Schule, zu Hause oder im sozialen Umfeld?

Als wir noch im Trüben gefischt haben, waren die Herausforderungen größer als heute. Man war im ständigen Rechtfertigungsmodus. Warum tickt Sandro ständig aus, warum bleibt er nicht mal bei einer Sache, warum ist er so chaotisch, warum fällt es ihm so schwer, Freunde zu finden … 

Durch die Diagnose ist alles greifbarer, man kann einige Situationen besser erklären, aber auch besser erleben. Je älter Sandro wird, desto mehr reden wir auch über dieses Thema mit ihm. Erklären Dinge, hinterfragen, wie es ihm in den verschiedenen Situationen ging, versuchen Vorkommnisse gemeinsam richtig einzusortieren. 

Zeitweise hat Sandro seine Diagnose ein bisschen als Joker gezogen: „Ich bin halt anders“, „ich kann ja auch nichts dafür“. Hier den Weg zu finden, die Probleme nicht herunterzuspielen, aber das Verstecken dahinter zu vermeiden, ist manchmal nicht einfach.


Erfahrt ihr Verständnis oder eher Vorurteile?

Beides. Durch die gesellschaftliche Entwicklung geht man mittlerweile offener mit den Themen um, unser Umfeld kann gar nicht mehr wegschauen und muss akzeptieren, dass Sandro mit seinen Themen kein Einzelfall ist. Manchmal fühlt sich das Verständnis aber nicht gut an, weil man das Gefühl hat, dass es nur ein oberflächliches Schulterklopfen ist. 


Wie gehst du/ihr als Familie mit schwierigen Situationen, wie impulsivem Verhalten oder Konzentrationsproblemen um?

Da gibt es ganz unterschiedliche Verhaltensmuster. Es kommt immer darauf an, wie man selber gerade drauf ist. Von ruhigen Gesprächen, über einen Spaziergang, Kuscheleinheiten, aber auch Androhung von Verboten, Resignation und totaler Eskalation ist alles dabei.

Wir haben hier schon Situationen erlebt, in denen wir uns stundenlang angebrüllt haben, nur weil wir wollten, dass die Hausaufgaben erledigt oder das Zimmer aufgeräumt wird. Glücklicherweise kommt das immer seltener vor. Mittlerweile sind es mehr die Gespräche und das Vermitteln von Liebe. Immer wieder zu zeigen: „Hey, wir lieben Dich, so wie Du bist, wir kriegen das zusammen hin und wir stehen hinter dir“, hilft uns allen. 

Allerdings muss man auch aufpassen, dass man nicht komplett in die Rolle der Löwin geht, der Spagat, zu unterscheiden, wann Sandro Mist gebaut hat, wie alle anderen es auch tun und ihn dann auch die Konsequenzen erleben zu lassen und Situationen, die wirklich aus seinem „Handycap“ heraus entstehen, ist wichtig. Manchmal denke ich, durch all unser Tun für Sandro, vernachlässigen wir die Gefühle des jüngeren Bruders. Nehmen bei ihm alles als gegeben hin und erwarten viel zu viel von ihm. In Sandros Themen sind wir so viel tiefer drinnen, weil wir einfach täglich damit konfrontiert werden. Die Zerrissenheit, für beide Jungs gleich viel da zu sein, kann stressen.


Welche Unterstützung konntet ihr, dein Sohn als auch du als Mutter, in Anspruch nehmen, z. B. durch Ärzt*innen, Therapeut*innen, Selbsthilfegruppen oder Schulen?

Schwierig. Die Unterstützung vom Jugendamt ist zäh. Hier muss man in der Regel die Alarmstufe rot einläuten, bis etwas passiert. Das hängt nicht damit zusammen, dass man nicht will, sondern wohl eher damit, dass es dort zu wenige Kapazitäten gibt, um sich den vielen Fällen anzunehmen. Therapeuten haben wir in den letzten Jahren einige kennengelernt. In Teilen frage ich mich ernsthaft, wie sie ihre Zulassung bekommen haben. Die oben erwähnte Lerntherapeutin bildet hier eine Ausnahme. Leider hat Sandro seine Stunden bei ihr, wie fast alle anderen Hilfsangebote, recht schnell abgebrochen.

Mittlerweile haben wir einen sogenannten Erziehungsbeistand, der uns das Lernen und Hausaufgaben machen abnimmt. Das bringt sehr viel Ruhe in den Alltag. Ist aber in Teilen auch schwierig, weil man als Eltern ja doch am Ball bleiben und wissen will, wie es in der Schule steht. Also mischt man doch wieder mit. Was toll ist, Sandro kommt mittlerweile auch schon mal zu uns und will mit uns lernen oder Hausarbeiten vorbereiten. Das klappt dann in der Regel auch gut. Vielleicht ein weiterer Schritt in die richtige Richtung 😊

In der Schule gibt es einen Schulbegleiter. Es ist ein Quereinsteiger, keine Fachkraft und es ruckelt immer mal wieder, aber unterm Strich tut er Sandro gut und die beiden kommen klar. Darüber hinaus bin ich mir sicher, dass der Einsatz des Schulbegleiters der gesamten Klasse zugutekommt. 

Hilfen für mich als Mutter: Möglicherweise gibt es da tatsächlich Angebote, aber ich habe mich noch nie so wirklich damit beschäftigt.

Ich glaube, meine Resilienzfähigkeit ist sehr gut ausgeprägt. Ich interessiere mich schon sehr lange für die mentale Gesundheit, habe im Job einige Berührungspunkte, konnte in meinen Coachingausbildungen selber einiges aufarbeiten und für mich mitnehmen, verbringe viel Zeit in der Natur, mache Sport… Und wenn es mal richtig brennt, habe ich auch schon auf die MFB-Beratung durch das Fürstenberg Institut zurückgegriffen 😊


Gibt es spezielle Programme, Medikamente oder Ansätze, die deinem Sohn geholfen haben?

Sandro nimmt seit der vierten Klasse Medikamente. Wir haben uns schwer getan mit der Entscheidung und auch heute fragen wir uns manchmal, ob es nicht auch ohne gehen würde. Deshalb haben wir, nach Rücksprache mit der Ärztin und mit Sandro, Ende letzten Jahres einen Versuch ohne gestartet. Die Rückmeldungen aus der Schule, dass es nicht läuft kamen gefühlt täglich rein. Zuhause haben wir keine große Veränderung bemerkt. Was macht man in so einer Situation!?

Sandro ist jetzt 13, das Verhalten in der Schule kann auch mit der beginnenden Pubertät zusammenhängen. Null Bock, Schule ist doof, ich will cool sein… Trotz dieser Gedanken, sind wir nach einigen Wochen wieder zur Medikamenteneinnahme zurückgekehrt. Nicht ohne das mit Sandro zu besprechen und auch auf seine Gefühle zu hören. Spezielle Programme funktionieren hier nicht. Sandro macht vieles mit, vermutlich um seine Ruhe zu haben, ist aber nach 2, 3 Termine in der Regel eher Anti eingestellt und jeder Termin ist ein Kampf. Daher haben wir die Versuche immer recht schnell wieder abgebrochen. Sowohl Dinge wie die Lerntherapie, aber auch sportliche Aktivitäten. 


Wie wirkt sich die ADHS-Diagnose deines Sohnes auf deine eigene emotionale Gesundheit aus? Fühlst du dich manchmal überfordert, und wenn ja, was hilft dir in solchen Momenten?

Die Frage habe ich in einigen der vorhergehenden schon beantwortet. Natur, sportliches Auspowern, Massagen, der Austausch mit meiner engsten Freundin. In Teilen reagiere ich aber auch mit Aktionismus und Rastlosigkeit. Immer wieder Neues machen, mich immer wieder eigenen Herausforderungen stellen, aus der Komfortzone begeben… Das hat mich auf der einen Seite weit gebracht und ich habe unfassbar viel erleben und erfahren dürfen, auf der anderen Seite stresst mich das manchmal und ich wünsche mir ein bisschen mehr Ruhe für mich.


Was gibt dir in deinem Alltag Kraft und Zuversicht?

Neben allem, was ich schon genannt habe, natürlich wir als Familie. Der enge Kreis, aber auch der weitere (Geschwister, etc. …), meine Freunde. Das Erleben, dass sich vieles in die richtige Richtung entwickelt und dass gerade bei Sandro in den letzten Jahren viel passiert ist. Der Gedanke, dass wir das gemeinsam geschafft haben, auch wenn es viele ätzende Situationen, Streit und Tränen gab. Die Erfahrung, dass man durch Sandros Themen auf Dinge stößt, die in der heilen Welt manch anderer niemals vorkommen, man dadurch ganz neue Erfahrungen macht, etwas bewegen und unterstützen kann.


Welche Veränderungen oder Unterstützungen wünschst du dir von der Gesellschaft, Schulen oder dem Gesundheitssystem?

In erster Linie wünsche ich mir, dass sich im Schulsystem einiges ändert. Angefangen von der Schulplatzverteilung/-vergabe (wie kann es sein, dass ein Los über die Annahme an einer Schule entscheiden darf?), über den Lehrermangel und die fehlenden Fachkräfte (wie kann es sein, dass permanent Unterricht ausfällt, Vertretungsstunden die Regel sind…), aber auch das System „Unterricht“ sollte meiner Meinung nach sehr stark überdacht werden. Es ist nicht mehr aktuell, dass Kinder 6 Stunden und mehr am Tag an einem Platz sitzen, auch der Lehrstoff ist in Teilen sowas von angestaubt…

In der Gesellschaft hat sich schon viel getan, vermutlich dadurch, dass es immer mehr Familien mit ähnlichen Problemen gibt. Hier muss man halt einfach den Mut haben, zu seinem Kind zu stehen und offen mit den Dingen umzugehen.Größter Schwachpunkt im Gesundheitssystem ist vermutlich die ewig lange Wartezeit, wenn man Hilfe in Anspruch nehmen möchte. 


Gibt es eine Botschaft, die du anderen Eltern von Kindern mit ADHS mitgeben möchtest?

Steht zu euren Kids, thematisiert, was bei euch passiert, seid stolz auf jeden Schritt, den ihr gemeinsam schafft.

Vergesst euch als Person, aber auch als Familie nicht. Gerade, wenn da noch weitere Geschwister sind.Nehmt Hilfsangebote an, wenn ihr das Gefühl habt, es nicht alleine zu schaffen.

Das Gespräch mit Ulrike zeigt eindrucksvoll, wie herausfordernd, aber auch bereichernd das Leben mit einem Kind mit ADHS sein kann. Es braucht Geduld, Kraft und eine große Portion Liebe, um den richtigen Weg zu finden – für das Kind, aber auch für die Familie als Ganzes. Ulrikes Offenheit macht deutlich, dass es keine einfachen Lösungen gibt, aber dass das Verständnis, die Unterstützung und der Mut, neue Wege zu gehen, viel bewirken können.

Ein herzliches Dankeschön an Ulrike für ihre ehrlichen Einblicke, ihre Erfahrungen und ihren unermüdlichen Einsatz – für Sandro, für ihre Familie und dafür, das Thema ADHS und die Herausforderungen betroffener Familien sichtbarer zu machen.

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