Ulrike Dobelstein-Lüthe

Ein Beitrag von Ulrike Dobelstein-Lüthe
Geschäftsführerin der Fürstenberg Foundation

Es ist Mittwochabend, der 19. März, als ich in Prien am Chiemsee ankomme. Schon im Dunkeln lässt sich erahnen, dass dieser Ort von Klinikhäusern dominiert wird. Auf den Straßen begegnen mir auffällig viele Jugendliche, meist in kleinen Gruppen. Sie tragen übergroße Jogginghosen, Daunenjacken – sie wirken wie kleine Stylingklone. Trotz der weiten Kleidung ist offensichtlich, dass viele von ihnen viel zu dünn sind. Besonders viele Mädchen sind darunter. Ein seltsames Gefühl macht sich in mir breit – ist das Bild dieses Ortes wirklich so stark von den Jugendlichen und ihren Erkrankungen geprägt?

Mit meinem Koffer laufe ich vom Bahnhof hinunter zum See. Die kalte Abendluft verstärkt die eigentümliche Stille, die über der Stadt liegt. Je näher ich dem Wasser komme, desto weniger Jugendliche sind zu sehen – sie verschwinden nach und nach hinter den Türen der Klinikhäuser. Zurück bleibt eine beklemmende Leere, die mich noch eine Weile begleitet.

Am nächsten Morgen erscheint Prien in einem anderen Licht. Die aufgehende Sonne taucht den See in sanftes Gold, die umliegenden Berge spiegeln sich in der glatten Oberfläche des Wassers. Die Luft ist frisch, klar – ein Ort, der Heilung verspricht. Ich denke, in einer solchen Umgebung müsste es doch leichter sein, wieder gesund zu werden. Doch die Eindrücke vom Vorabend lassen mich noch nicht los und hallen nach.

Mein Termin führt mich zur Schön Klinik Roseneck. Die Klinik behandelt seit 2011 Kinder und Jugendliche. Acht Stationen stehen für 12- bis 17-Jährige zur Verfügung. 

Die häufigsten Diagnosen: Essstörungen, Depressionen, Angst- und Zwangsstörungen, posttraumatische Belastungsstörungen und körperdysmorphe Störungen.

An diesem Tag strahlt im Sonnenlicht das Klinikgebäude mit seinen hellen Farben und der bayrisch anmutenden Fassade (früher stand hier ein Bauernhaus, welches das erste Gebäude der Klinik wurde) eine gewisse Leichtigkeit aus. Die weiten Flure sind belebt, Patient*innen und Mitarbeiter*innen kreuzen meinen Weg. Die meisten tragen Sportkleidung, einige sind in Gespräche vertieft, andere scheinen konzentriert auf dem Weg zu ihrer nächsten Therapie. Ich treffe hier heute Dr. Carolin Göhre und Professor Andreas Hillert, meine Ansprechpartner*in unserer Partnerklinik. Carolin Göhre sitzt im Fachbeirat der Fürstenberg Foundation. Sie ist Spezialistin für psychosomatisch erkrankte Jugendliche. Gemeinsam mit Prof. Hillert und ihr arbeiten wir an der Umsetzung von präventiven Seminaren und Veranstaltungen. 

Schon an der Tür begrüßt mich Carolin Göhre mit einem warmen Lächeln. Sie ist eine auffällige Erscheinung: hochgewachsen, mit großen, ausdrucksstarken Augen und langem, schwarzem Haar. Ihr Blick ist offen, ihre Ausstrahlung freundlich – eine Mischung aus Ruhe und Fröhlichkeit, die sofort ansteckend wirkt. Es dauert nur einen kurzen Moment, bis klar wird: Genau diese Präsenz muss es sein, die ihre Patient*innen an ihr schätzen.

In der Cafeteria treffen wir Professor Hillert. Ein wacher und schneller Geist. Kaum haben wir uns gesetzt, vertiefen wir uns in ein intensives Gespräch:


Es geht um die Herausforderungen und Probleme, mit denen Jugendliche in Deutschland konfrontiert sind. Und um die Realität ihrer Lebenssituation.

Wie schlecht es um die seelische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen steht, zeigte jüngst die aktuelle COPSY-Studie der UKE Hamburg. Sie kommt zu dem Schluss, dass mittlerweile jeder und jede Fünfte psychisch belastet ist. 21 Prozent berichten von einer anhaltenden Beeinträchtigung der Lebensqualität, 22 Prozent leiden unter psychischen Auffälligkeiten, unter Angststörungen, Magersucht und Depressionen. Der Bedarf steigt, Therapieplätze sind rar. Und so müssen Betroffene Wartezeiten im Schnitt von sechs Monaten in Kauf nehmen.

Carolin Göhre, Prof. Dr. Dr. Andreas Hillert, Ulrike Dobelstein-Lüthe

Carolin Göhre, Prof. Dr. Dr. Andreas Hillert, Ulrike Dobelstein-Lüthe

Rund um Prien werden deshalb derzeit drei weitere Kliniken für Jugendliche geplant – der Bedarf ist enorm, es gibt nicht genug Betten. Doch der Ausbau ist mit Herausforderungen verbunden: Bürokratische Hürden verzögern den Fortschritt, Therapiemaßnahmen, Kooperationen und auch die Arbeit mit den Patient*innen und deren Eltern ist natürlich nicht immer einfach. 

Carolin Göhre beobachtet bei sich im Haus eine zunehmende Hospitalisierung. „Manchmal entsteht eine Atmosphäre, die fast an ein Ferienlager erinnert. Einige vergessen, dass das Leben draußen auf sie wartet.“ Die Herausforderung bestehe darin, den Übergang zwischen Klinikalltag und realem Leben zu gestalten – ohne, dass die Patient*innen den geschützten Raum als dauerhafte Zuflucht sehen. Ein entscheidender Faktor ist zudem die Einbindung der Eltern. Viele der Jugendlichen, so Göhre, leiden unter diffusen Ängsten, weil ihre Eltern sie lange vor den Unwägbarkeiten des Lebens bewahrt haben. Wettbewerb, Konflikte, Frustration – all das, womit Heranwachsende eigentlich lernen sollten umzugehen, wird ihnen oft abgenommen. Gleichzeitig stelle sie fest, dass Eltern immer seltener in der Lage seien, Konflikte auszuhalten – auch die mit ihrem eigenen Kind.

Die stetig zunehmende Anzahl von psychisch belasteten und erkrankten Jugendlichen macht sowohl Hillert als auch Göhre große Sorgen. Was also tun außerhalb der Klinikmauern? Beide engagieren sich mit Studien, Veröffentlichungen, Seminaren und Aufklärungsarbeiten zusätzlich zu ihrem Klinikalltag.

Beim Rundgang durch die Klinik bleibe ich an den Wänden hängen. Dort hängen Bilder aus der Maltherapie der Jugendlichen. Farben, Formen, Gefühle, die aus den Rahmen hervorbrechen. Einige wirken hoffnungsvoll, andere voller Schmerz. Ich schlucke. Diese Kunstwerke erzählen Geschichten, die Worte kaum fassen können.

Auf den Fluren begegne ich Jugendlichen, die auf den ersten Blick unbeschwert wirken – ein Lächeln hier, ein leises Lachen dort.

Gemaltes Bild einer Jugendlichen mit dem bunten Schriftzug "Create a Life you Cant't wait to wake up to"

Doch dann bemerke ich die feinen Narben auf den Armen, die schmalen Gesichter, die Augen, die manchmal leer, manchmal suchend wirken.

Carolin Göhre und Professor Hillert arbeiten unter hoher Belastung, doch sie tragen ihre Überzeugung in sich. Sie sind Menschen, die nicht nur einen Beruf ausüben, sondern einer Berufung folgen. Jeden Tag hören sie schwere Geschichten, erleben Rückschläge, kämpfen für die Jugendlichen – und doch zweifeln sie nicht daran, dass ihre Arbeit wichtig ist.

„Ich habe den besten Beruf und kann mir nichts anderes vorstellen, als Menschen zu helfen.“ sagt Andreas Hillert in seinem Büro, das so wirkt, als würde er hier viele Stunden mit intensiver Arbeit verbringen. Er hat sich dort mit Bildern, Fotos und Büchern gemütlicher und persönlicher eingerichtet.

Carolin Göhre zeigt mir später die Dankeskarten und Geschenke von ehemaligen Patient*innen. Ihr seelischer Lohn nach vielen Stunden Arbeit. Daneben steht ein leerer Kaffeebecher – ohne Koffein geht es einfach nicht.

Im April 2025 werden Hillert und Göhre ein Buch veröffentlichen: "Wo bin ich und wo will ich hin?". Die Frage nach Orientierung beschäftigt nicht nur immer mehr Erwachsene, sondern vor allem Jugendliche, die auf der Suche nach Halt sind. Ohne Perspektive, ohne eine Vorstellung von Zukunft fällt es schwer, gesund zu werden. Diese Erkenntnis ist auch die Grundlage für das Programm „Jugend-Kompass“ (JuKo) – ein Gruppenangebot, das Jugendlichen hilft, eigene Wege zu finden und eine Vision für ihr Leben zu entwickeln.

Besonders bedrückend ist die Tatsache, dass Gelder für die Prävention psychischer Erkrankungen immer wieder gekürzt werden (gerade Gelder in Berlin für die Telefonseelsorge), obwohl der Bedarf steigt.


In Deutschland haben 20 Prozent der Kinder psychische Auffälligkeiten, bei zehn Prozent sind sie gravierend. Trotzdem werden viele übersehen, ihre Sorgen nicht ernst genug genommen.

Nach über vier Stunden in der Klinik laufe ich am See entlang zurück zu meinem Hotel. Der Chiemsee liegt still, als würde er all die Schwere in sich aufnehmen.

Ich bin tief bewegt von den einzelnen Schicksalen, von der Dringlichkeit, mit der hier gearbeitet wird. Eines ist für mich klar: Wir als Foundation haben einen tollen fachlichen Partner finden können, aber wir haben noch einen weiten Weg vor uns und müssen mehr tun. Mehr Unterstützung organisieren. Mehr Bewusstsein schaffen. Gemeinschaftlich mit anderen Organisationen und Initiativen arbeiten.

Ich werde zurückkehren an diesen Ort, an dem Schönheit und Schwere, Krankheit und Heilung so nah beieinanderliegen.

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