Ulrike Dobelstein-Lüthe

Ein Beitrag von Ulrike Dobelstein-Lüthe
Geschäftsführerin der Fürstenberg Foundation


Interview mit Nabil Moghib

Nabil Moghib, 64, Jurist und Betriebswirt aus Hamburg

In unserer Interviewreihe hatte ich die Gelegenheit, dieses Interview mit Nabil zu führen. Einem Vater, der mit den Herausforderungen konfrontiert ist, die mit der psychischen Erkrankung seines Sohnes einhergehen. Nabil gibt in diesem Gespräch tiefgehende Einblicke in seinen Alltag, seine Gedanken und seine Erfahrungen.

Als Angehöriger eines jungen Menschen mit ADHS, depressiven Phasen und Angstzuständen spricht er über die schwierige, aber auch zutiefst prägende Reise der Unterstützung und Akzeptanz. In seinen Worten spiegelt sich nicht nur der persönliche Kampf, sondern auch der Wunsch nach mehr Verständnis und Unterstützung für Betroffene und ihre Familien in der Gesellschaft.

Ulrike: Wer bist und wie alt bist Du? Bitte beschreib Dich und Dein Leben in 3-5 Sätzen. 

Navid: Ich bin 64 Jahre alt, und Hamburg war und ist mein Lebensmittelpunkt – eine Stadt, die meine Herkunft als spannende Mischung aus HH-Barmbek und Kairo prägt. Als Jurist und Betriebswirt habe ich mein Berufsleben stets im Medienbereich verbracht, zunächst als Freiberufler mit faszinierenden und prägenden Arbeitsaufenthalten in Amazonien, der Hocharktis und Afrika.

Mit Mitte 30 entschied ich mich für eine Festanstellung und war zuletzt 14 Jahre lang bei DER SPIEGEL tätig. Privat bin ich seit über 25 Jahren glücklich verheiratet und habe zwei Söhne (25 und 22).

Wenn ich mein Leben in einem Satz zusammenfassen sollte, wäre es wohl: Von Glück und Liebe umarmt.


Wer ist in Deinem familiären Umfeld erkrankt? Und mit welcher Diagnose?

Mein jüngerer Sohn lebt mit der Diagnose ADHS, begleitet von depressiven Phasen und Angstzuständen. Rückblickend betrachtet zeigten sich die ersten Anzeichen bereits während seines Abiturs – einer Zeit, die mitten in die Corona-Phase fiel.


Wann und wie hast du bemerkt, dass dein Sohn psychische Probleme hat?

Es ist keine leicht zu beantwortende Frage, da gerade die nächsten Angehörigen oft erst spät erkennen und realisieren, was wirklich hinter den Schwierigkeiten steckt. So war es auch bei uns: Dass die Probleme unseres jüngeren Sohnes nicht nur alltägliche Herausforderungen waren, sondern auf einer ernsthaften Erkrankung beruhen, wurde uns erst klar, als die Auswirkungen unübersehbar wurden – mehr als ein Jahr später.


Wie verlief der Prozess der Diagnose, und wie hast du diese Zeit erlebt?

Ehrlich gesagt, war es zunächst mein Sohn, der sich um seine Diagnose gekümmert hat – aus zwei Gründen: Zum einen wollte er die Situation selbstständig bewältigen, und zum anderen sind Eltern nicht immer die hilfreichsten Partner für ihr Kind in solchen Momenten. Die Diagnose wurde schließlich im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) gestellt, während einer mehrwöchigen Begleitung in der Tagesklinik.


Wie hat sich die Erkrankung deines Sohnes auf eure Familie ausgewirkt?

Nachdem die Erkrankung für alle in der Familie klar war, brauchte jeder von uns Zeit, um sie nicht nur zu akzeptieren, sondern auch wirklich zu verstehen, zumindest soweit dies möglich ist. Dabei wurde mir bewusst, wie unterschiedlich psychische Erkrankungen im Vergleich zu physischen wahrgenommen werden: Während körperliche Erkrankungen oft durch eigene Erfahrungen nachvollzogen werden können, bleibt das Verständnis für psychische Erkrankungen meist abstrakter und schwieriger.

In dieser Phase war auch die Kommunikation innerhalb der Familie herausfordernd, da Akzeptanz und Verständnis unterschiedlich stark ausgeprägt waren. Doch als wir diesen Prozess des Verstehens und Akzeptierens gemeinsam durchlaufen hatten, rückte unsere Familie noch enger zusammen.


Wie würdest du deine Rolle im Umgang mit der Erkrankung deines Sohnes beschreiben?

Wie bereits erwähnt, erkennen gerade Eltern oft erst spät die Schwere und Tiefe einer Erkrankung – so war es auch bei mir. Mein Sohn hat in dieser Zeit viel gut gemeinte, aber für ihn belastende Unterstützung meinerseits ertragen und sich stattdessen oft bei Freunden Hilfe und Gespräche gesucht.

Seit etwa einem Jahr darf ich mich jedoch, glaube ich, mit Recht als seinen engsten Vertrauten und Unterstützer bezeichnen. Besonders wertvoll ist, dass ich ihm derzeit fast täglich Zeit und Aufmerksamkeit schenken kann, was unsere Verbindung spürbar gestärkt hat.


Gibt es bestimmte Dinge, die dir besonders schwer fallen, oder Bereiche, in denen du dich sicher fühlst?

Ja, Geduld und ein realistisches Erwartungsmanagement sind die größten Herausforderungen, die man in einer solchen Situation meistern muss. Besonders schwer ist es, wenn depressive oder schlechte Phasen dazu führen, dass alles Erreichte scheinbar wieder auf (fast) Null zurückfällt.

Was mir Sicherheit gibt und Optimismus schenkt, ist meine Unterstützung im täglichen Leben meines Sohns. Dazu gehören die Organisation und Einhaltung von Terminen jeglicher Art, aber auch ganz praktische Dinge wie Einkaufen, Saubermachen und die Kommunikation mit anderen – egal, um wen es geht.

Besonders wichtig ist es, den Prozess der Therapieplatzsuche mit viel Geduld zu begleiten. Das hat mehrere Gründe: Betroffene sind nicht immer in der Lage, diese Aufgabe selbst zu übernehmen, möchten dies aber verständlicherweise oft eigenständig regeln – was ihnen jedoch nicht immer gelingt. Hinzu kommt der akute Mangel an qualifizierten Therapieplätzen.

Ein weiterer Punkt, den wir nicht vergessen dürfen, ist, dass viele Therapeut:innen für junge Menschen mit komplexen Krankheitsbildern nicht ausreichend ausgebildet sind. Wir sprechen hier von Erkrankungen, die in dieser Form und in diesen Altersgruppen erst seit vergleichsweise kurzer Zeit bekannt sind. Das erfordert eine besondere Sensibilität und viel Engagement – von allen Beteiligten.


Wie gelingt es dir, eine Balance zwischen Unterstützung und Förderung von Eigenständigkeit zu finden?

Geduld, Geduld, Geduld – kombiniert mit offener und erwartungsfreier Zuwendung, ist wohl das Wichtigste. Rückschritte müssen akzeptiert werden, da sie nicht auf Unwilligkeit, sondern auf die Krankheit selbst zurückzuführen sind. Stattdessen können kleine Schritte dabei helfen, die Eigenständigkeit behutsam zu fördern.

Es ist essentiell, fast alles in Absprache zu machen und jeglichen Druck zu vermeiden. Betroffene wollen in der Regel gesund werden, aber Druck ist dabei keine Hilfe. Stattdessen sollte man Kalender und Termine gemeinsam besprechen und im Blick behalten – immer in einem unterstützenden und respektvollen Miteinander.


Wie sieht ein typischer Alltag für euch aus? Gibt es besondere Routinen, die euch helfen?

Wir haben zwei feste Termine in der Woche, bei denen wir versuchen, uns gemeinsam zu organisieren, Aufgaben zu verteilen, To-dos zu besprechen und nachzuhalten. Fast täglich geht es dabei um grundlegende Dinge wie das Aufstehen, Termin- und Aufgabenerinnerungen oder gemeinsame Mahlzeiten.

Auch hier stehen Geduld und der Umgang mit einem hohen Frustrationspotenzial im Mittelpunkt – und das gilt für uns beide gleichermaßen. Diese Herausforderungen anzunehmen, erfordert Verständnis und Beharrlichkeit, aber sie schaffen auch Struktur und Verbindung im Alltag. Für Beide!


Wie gehst du mit schwierigen Momenten um, z. B. wenn dein Sohn Krisen hat?

Aus meiner Erfahrung kann hier nur Akzeptanz und, wenn möglich, liebe- und verständnisvolle Zuwendung helfen.


Welche Veränderungen hast du in deinem Leben vorgenommen, um besser auf die Bedürfnisse deines Sohnes eingehen zu können?

Als betroffener Angehöriger habe ich mir externe Unterstützung bei einem psychosozialen Dienst gesucht, da die ständige Verfügbarkeit und der Umgang mit der eigenen Frustration und Belastung schwierig waren – und es auch immer noch sind.

Was mir hilft, ist Transparenz und Offenheit, sowohl innerhalb der Familie als auch im Freundeskreis. Die Unterstützung und Anteilnahme, die ich auf diesem Weg erfahren habe, sind eine große Hilfe und machen vieles einfacher – sei es durch konkrete Entlastung oder einfach durch das Gefühl, nicht allein zu sein.


Welche Unterstützung hast du in Anspruch genommen, z. B. durch Therapie, Beratungsstellen oder Selbsthilfegruppen?

Neben Selbsthilfegruppe und der eben erwähnten Angehörigenunterstützung ist die Beschäftigung mit dem Thema wichtig, egal, ob Gespräche mit Betroffenen oder Angehörigen.


Fühlst du dich ausreichend unterstützt von der Gesellschaft, Ärzt*innen oder Institutionen?

Nein, ganz sicher nicht. Das im Einzelnen aufzudröseln wäre eine Mammutaufgabe, zumal bislang nichts davon hilfreich war. 


Wie gehst du persönlich mit der Situation um? Fühlst du dich manchmal überfordert?

Ich bin fest davon überzeugt, dass Eltern in solchen Situationen immer überfordert sind – und dazu zähle ich mich ganz sicher auch.

Was mir hilft, ist, auf meine eigene (psychische) Gesundheit zu achten. Das bedeutet, dass Sport, Meditation, Zeit mit Freunden, Urlaub oder was auch immer mir gut tut, ihren Raum brauchen. Nur wenn es mir selbst gut geht, kann ich auch ein echter Unterstützer sein.

Die Kraft, die ich brauche, ziehe ich aus der Familie und der Gemeinsamkeit, die uns zusammenhält. Und nicht zu vergessen: Die kleinen Fortschritte und das, was bereits erreicht wurde, sind wichtige Faktoren, die meinen geduldvollen (!) Antrieb stärken.


Was sind deine Hoffnungen und Wünsche für die Zukunft deines Sohnes?

Es wäre großartig, wenn wir in 8 bis 12 Monaten an dem Punkt wären, an dem mein Sohn sein Leben, seine Ausbildung oder sein Studium beginnen kann – ohne dass er es aufgrund seiner Erkrankung erneut abbrechen muss.

Das mit Abstand Wichtigste ist jedoch, dass wir einen erfolgreichen Gesundungsprozess erleben. Erst die Gesundheit, dann alles andere – so einfach und pragmatisch sehe ich das.


Gibt es etwas, das du dir von der Gesellschaft oder vom Gesundheitssystem wünschen würdest, um die Situation von Familien wie deiner zu verbessern?

Für die Gesellschaft wünsche ich mir mehr Akzeptanz und weniger Fehlinformation, insbesondere aus den sozialen Medien. Es ist wichtig, dass wir ein besseres Verständnis für psychische Erkrankungen entwickeln und Vorurteile abbauen.

Da Schule und Ausbildung in der Regel nur im Einzelfall auf die Bedürfnisse von Erkrankten eingehen können, ist hier ebenfalls eine Veränderung notwendig. Das Bildungssystem muss flexibler werden, um die unterschiedlichen Anforderungen zu berücksichtigen.

Das Gesundheitssystem steht in diesem Bereich noch auf dem Stand von vor einigen Jahrzehnten und hat sich zu wenig weiterentwickelt zu den aktuellen Themen. Es ist dringend notwendig, dass sich hier mehr im Therapiebereich tut, denn die Folgekosten und die eingeschränkte Leistungsfähigkeit der Erkrankten werden mit Sicherheit die Kosten für die Therapien übersteigen.

Leider sind qualifizierte Therapieplätze auf dem freien Markt kaum zu finden, und auch die Unterstützung für Betroffene ist oftmals unzureichend. Hier muss sich dringend etwas ändern, um eine umfassende Hilfe für alle zu ermöglichen.


Lieber Nabil,
ich möchte mich herzlich bei dir für deine Offenheit und deine Bereitschaft bedanken, so ehrlich und tiefgehend über die Herausforderungen zu sprechen, die du und deine Familie durchleben. Es ist nicht selbstverständlich, solche persönlichen und oftmals belastenden Themen zu teilen. Deine Rolle als Vater finde ich zudem besonders wichtig, da in der Regel eher mit den Müttern gesprochen wird, da sie bei einer Erkrankung eines Kindes häufiger im Fokus stehen. Väter jedoch stehen in Familien mit psychischen Erkrankungen oft vor spezifischen Herausforderungen und erleben ihre Rolle anders als Mütter. Diese Erfahrungen werden jedoch selten öffentlich thematisiert. Dein Beitrag trägt dazu bei, diese Perspektive sichtbar zu machen und das Verständnis für die komplexen Dynamiken in betroffenen Familien zu erweitern. Dein Beitrag hilft zudem, das Verständnis für psychische Erkrankungen und die Unterstützung von Betroffenen zu fördern. Vielen Dank für deine Zeit und deinen wertvollen Beitrag zu diesem Interview.


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