
Ein Beitrag von Ulrike Dobelstein-Lüthe
Geschäftsführerin der Fürstenberg Foundation

Bertram Solcher, Fotograf & Vater aus Hamburg
Als ich im Frühjahr 2024 mit dem Aufbau der Foundation angefangen habe, habe ich sehr viel zum Thema Mental Health recherchiert. Dabei bin ich dann auch auf den stern-Artikel und die Fotos von Bertram Solcher und seiner depressiven Tochter Janne gestoßen. Ihre Bilder haben mich sofort emotional ergriffen.
Es gibt Momente im Leben, die sich nur schwer in Worte fassen lassen. Für den Fotografen und Mediziner Bertram Solcher war es die Kamera, die ihm half, einen Zugang zu den Gefühlen, Kämpfen und Hoffnungen seiner Tochter Janne zu finden. Seit ihrer Geburt hält er die kleinen und großen Augenblicke ihres Lebens in Bildern fest. Doch diese Porträts wurden zu etwas weit Größerem, als bei Janne im Herbst 2022 eine Depression diagnostiziert wurde.
In unserem Interview teilt Bertram Solcher, wie sich Jannes Entwicklung – und die stille Präsenz ihrer Krankheit – in seinen Fotografien spiegeln. Es ist eine Geschichte von Nähe, Verdrängung und einem neuen Verstehen. In einer Zeit, in der die seelische Gesundheit junger Menschen durch die Corona-Pandemie zunehmend belastet wurde, setzt dieses Interview ein Zeichen: Für Offenheit und Dialog.
Ulrike Dobelstein-Lüthe: Wer bist und wie alt bist Du? Bitte beschreib Dich und Dein Leben in 3-5 Sätzen.
Ich bin ein leidenschaftlicher Fotograf und versuche, ein liebevoller und engagierter Vater und Ehemann zu sein. Meine Lebenserfahrung sagt mir, dass vieles nicht so ist, wie es aussieht. Deshalb versuche ich mit meiner Fotografie in die Tiefe zu gehen, auch wenn es weh tut.
Wer ist in Deinem familiären Umfeld erkrankt? Und mit welcher Diagnose?
In meiner Familie ziehen sich Depressionen durch die Generationen. Meine Großmutter, meine Mutter und meine Schwester waren davon betroffen. Für dieses Interview geht es aber um meine Tochter Janne.
Wann hast du das erste Mal bemerkt, dass etwas mit deiner Tochter nicht stimmt?
Einen genauen Zeitpunkt zu bestimmen, ist schwierig. Janne hat 2020 ihr Abitur gemacht und war bis dahin als Leistungssportlerin stark eingebunden – wenig Zeit, um ein typisches pubertäres Verhalten auszuleben. Dann kamen der Lockdown, das Sportverbot, eine ungewisse Zukunft und fehlende Strukturen zusammen. Wir als Eltern haben ihre Antriebs- und Lustlosigkeit bemerkt, ebenso ihre zunehmende Bockigkeit, haben dies aber auf die äußeren Umstände geschoben. 2022 hat Janne dann selbst die Bombe platzen lassen: “Ich fühle nichts mehr und habe schon überlegt, ob ich mich ritze, um überhaupt etwas zu spüren.“

Foto: Bertram Solcher
Wie hast du die Zeit erlebt, bis die Diagnose Depression gestellt wurde?
Das ist schwer zu beschreiben. In der Retrospektive würde ich sagen: Es ist so, als ob sich ganz langsam ein schwerer Schleier über die ganze Familie legt.
Wie hat sich die Diagnose auf eure Familie ausgewirkt und euren Alltag verändert?
Wir haben versucht Janne’s Antriebslosigkeit etwas entgegen zu stellen. Wir haben mit Engelszungen geredet, wir haben geschimpft. Wir haben abends damit aufgehört und morgens wieder angefangen. Wir haben einfach nichts gemacht und sind nur dagewesen. Letztlich sind wir immer wieder aneinander verzweifelt.
Wie würdest du deine Rolle im Umgang mit der Depression deiner Tochter beschreiben?
Vor der Diagnose haben wir als Eltern in wechselnder Rolle den 'Good Cop, Bad Cop' gespielt. Danach haben wir versucht, möglichst professionell, besonnen und unterstützend zu handeln. Wir haben Janne selbst entscheiden lassen, wie viel Nähe ihr zu uns guttut, und uns darauf konzentriert, sie vor falschen Entscheidungen zu bewahren.
Wie beeinflusst die Depression deiner Tochter euren gemeinsamen Alltag? Gibt es besondere Herausforderungen?
Auch depressive Menschen benehmen sich manchmal einfach daneben. Die Herausforderung besteht darin, zwischen gewöhnlichem Fehlverhalten, depressiven Phasen und krankheitsbedingter Überforderung zu unterscheiden.
Gibt es bestimmte Strategien oder Routinen, die euch als Familie helfen?
Tief durchatmen, nicht alles auf die Goldwaage legen und sich darauf besinnen, dass die beiderseitige Liebe stärker ist als die Krankheit.

Foto: Bertram Solcher
Welche Unterstützung habt ihr in Anspruch genommen, zum Beispiel Therapie, Beratungsstellen oder andere Hilfsangebote?
Wir haben viele verfügbare Angebote in Anspruch genommen: die ärztliche Klinikambulanz, Psychotherapie und ambulante ärztliche Versorgung. Besonders hilfreich war, dass Janne nach der Vorstellung in der Klinikambulanz selbst die Initiative ergriffen und ihre Behandlungen eigenständig organisiert hat.
Hast du das Gefühl, dass du als Vater genügend informiert und eingebunden wirst?
Ich glaube nicht, dass wir gut informiert worden wären, wenn ich nicht Mediziner wäre. So war ich in der Lage Studien zu lesen und mich selber zu informieren.
Gibt es Hilfsangebote, die speziell für die Familien von Erkrankten gemacht sind, oder wünschst du dir mehr Unterstützung in diesem Bereich?
Es gibt viele Angebote, aber wir haben sie nicht genutzt. Jeder sollte für sich selbst entscheiden, was am besten passt. Ich persönlich bin kein Typ für Selbsthilfegruppen – ich tausche mich lieber mit Menschen aus, die ich selbst wähle, oder höre einen Podcast.
Gibt es Momente, in denen du emotional an deine Grenzen stößt? Wie gehst du mit den eigenen Sorgen und Ängsten um?
Diese Momente gibt es zuhauf. Zu glauben, dass nur die anderen krank sind, funktioniert nicht. Der Schleier lastet schwer - auf allen Beteiligten.
Was gibt dir in deinem Alltag Kraft und Zuversicht?
Fotografie ist für mich Leben und Berufung. Wir haben ein liebevolles Familienleben. Ich lese viel. Und die ausgiebigen täglichen Spaziergänge mit unserem Hund machen den Kopf frei.
Was hat dich ursprünglich dazu inspiriert, die Entwicklung deiner Tochter Janne von Geburt an fotografisch zu dokumentieren und wie hat sich deine Sichtweise auf eure Fotos verändert, seit bei Janne die Depression diagnostiziert wurde? Haben sich die Momente, die du festhalten möchtest, dadurch verändert?
Ich bin ein Fotograf, der festhält, was ist – Inszenierungen liegen mir nicht. Das Leben schreibt die besten Geschichten, man muss sie nur einfangen. Janne habe ich immer auch als fotografisches (nicht nur) Langzeitprojekt gesehen. Ursprünglich war die Idee, jedes Jahr einen Kalender mit Bildern von ihr für die Verwandtschaft zu erstellen – eine Tradition, die ich bis heute fortführe. Seit 2020, mit der Diagnose, haben die Bilder eine neue Ebene bekommen.
Ich habe einfach regelmäßig fotografiert – die Kamera lag meist griffbereit neben mir, und wenn mir etwas auffiel, habe ich den Moment festgehalten. Janne färbt sich die Haare? Sah erst einmal einfach komisch aus. Rückblickend, mit dem Wissen um ihre Krankheit, wird der Wunsch nach Veränderung verständlich. Viele Bilder haben ihre tiefere Bedeutung erst durch die Diagnose bekommen

Foto: Bertram Solcher
Hat dir die Fotografie geholfen, einen Zugang zu Jannes Gefühlen und ihrer Krankheit zu finden, den Worte vielleicht nicht ermöglicht hätten?
Janne hätte schon 2020 sagen können, dass sie nicht mehr fotografiert werden möchte – hat sie aber nicht. Also habe ich weitergemacht. Manche Bilder mochte sie sofort, andere erst auf den zweiten oder dritten Blick. Heute ist sie froh, dass es diese Aufnahmen gibt. Sie weiß, dass sie nicht ihre Krankheit ist, sondern dass sie eine Krankheit hat. Die Bilder haben ihr geholfen.
Gibt es Dinge, die sich deiner Meinung nach in der Gesellschaft oder im Gesundheitssystem ändern sollten, um Familien wie euch besser zu unterstützen?
Wir sind mit unserer Geschichte an die Öffentlichkeit gegangen, weil wir dazu beitragen möchten, dass psychische Erkrankungen offen und ohne Scham thematisiert werden.
Die Stigmatisierung muss ein Ende haben. Außerdem braucht es dringend mehr Psychiaterinnen und Psychiater sowie Therapeutinnen und Therapeuten. Es wäre zudem ein großer Vorteil, wenn die Spezialisierungen der Fachkräfte für Laien klarer ersichtlich und verständlich wären – denn nicht jede Therapeutin passt zu jeder Patientin.
Welche Botschaft möchtest du anderen Vätern/Familien in ähnlichen Situationen mit auf den Weg geben?
Krankheiten zu googeln ist genauso wenig eine gute Idee, wie sich von der Freundin der Cousine beraten zu lassen, die einen Bekannten mit Burn-out in der Familie hat. Professionelle Hilfe ist unerlässlich. Den Spruch ‚Lach doch mal‘ am besten ignorieren – oder gleich zum Running Gag machen. Und wer sich zu Hause einigelt, vereinsamt – mit oder ohne Krankheit.








Mein Gespräch mit Bertram Solcher zeigt eindrücklich, wie sehr eine Depression nicht nur die erkrankte Person, sondern auch das gesamte familiäre Umfeld prägt. Es macht deutlich, wie wichtig Offenheit, Geduld und professionelle Unterstützung sind – und dass jeder seinen eigenen Weg finden muss, mit der Situation umzugehen.
Mit seinen Fotografien hat Bertram nicht nur die Entwicklung seiner Tochter Janne dokumentiert, sondern auch einen Raum für Verständnis und Reflexion geschaffen. Seine Bilder erzählen Geschichten jenseits von Worten – von Schmerz, Hoffnung und Veränderung.
Lieber Bertram, danke, dass Du Deine Erfahrungen und Einblicke mit uns geteilt hast – so offen, ehrlich und berührend. Dein Mut, Eure Geschichte öffentlich und mit Euren Bildern zu erzählen, hilft dabei, psychische Erkrankungen aus der Tabuzone zu holen und Betroffenen wie Angehörigen eine Stimme zu geben. Möge dieses Interview dazu beitragen, den Dialog über mentale Gesundheit weiter zu stärken und Familien in ähnlichen Situationen Mut zu machen.