Lale Ahmerkamp

Ein Beitrag von Lale Ahmerkamp
Gastautorin

Dr. Anne Kaman, Gesundheitswissenschaftlerin und stellvertretende Leiterin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Forschungssektion Child Public Health, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf

„Danke, dass mal jemand fragt” - Interview mit Dr. Anne Kaman, Co - Autorin der COPSY Studie zur mentalen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen von unserer Gastautorin Lale Ahmerkamp

 Wie steht es um die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland?

Dr. Anne Kaman, Co - Autorin der COPSY Studie erklärt, wie es Kindern und Jugendlichen geht, was sich in den letzten Jahren verändert hat, und was sich in Zukunft dringend ändern sollte.

Lale Ahmerkamp: Frau Dr. Kaman, Sie sind Co - Autorin der COPSY-Studie des UKE, die mit ihrer ersten Befragungswelle im Mai 2020 an den Start ging. Was war der ursprüngliche Anlass für diese Studie und warum war sie zu dem Zeitpunkt so wichtig?

Dr. Anne Kaman: Die Studie entstand aus einer erstaunlich selten gestellten Frage, nämlich: Wie geht es eigentlich unseren Kindern in der Pandemie? Im Fokus stand damals der Schutz der älteren Bevölkerung, völlig verständlich und wichtig.

Es hat allerdings niemand gefragt, wie es den Kindern zu dieser Zeit ging, dabei muss man sich bewusst machen, dass sich für die Kinder zu Beginn der Pandemie ihr komplettes Leben schlagartig verändert hat: Schulen wurden geschlossen, Spielplätze waren gesperrt, Sportvereine hatten zu, der Kontakt zu Freunden war häufig nur noch über soziale Medien möglich.

Die Kinder konnten all ihren gewohnten Freizeitaktivitäten nicht mehr nachgehen. Vor diesem Hintergrund haben wir uns relativ zügig nach Beginn der Pandemie entschieden, eine Studie zu initiieren. Wir wollten erfahren, wie es den Kindern geht und was die Pandemie vor allem mit ihrer psychischen Gesundheit und ihrem Wohlbefinden macht. Dabei sollten sie selbst zu Wort kommen, weil sie zu Pandemie-Beginn kaum eine Lobby hatten. 


Was haben Sie festgestellt?

Wir haben in unseren Daten ziemlich deutlich gesehen, dass vor allem die psychische Gesundheit und das Wohlbefinden von Kindern während der Pandemie enorm gelitten hat. Da war vor allen Dingen die Isolation, der Verlust von gewohnten Strukturen, sozialen Kontakten, die Schulschließungen und die damit verbundenen Unsicherheiten. Das hat zu Ängsten, depressiven Symptomen, und zu anderen psychischen Belastungen geführt. 

Zu Beginn der Pandemie haben wir einen enormen Anstieg dieser Auffälligkeiten verzeichnen können, nach der Pandemie besserte sich die Lage zunächst wieder - dieser Trend der Verbesserung hat sich allerdings im letzten Jahr nicht fortgesetzt. Zum Zeitpunkt der letzten Datenerhebung im Herbst 2024, ging es den Kindern immer noch schlechter als das vor der Pandemie der Fall war, das präpandemische Niveau haben wir also noch nicht wieder erreicht.


Für das präpandemische Niveau werden in Ihrer Studie die Daten der methodisch vergleichbaren BELLA Studie herangezogen. Zum Vergleich; 15 Prozent der Jugendlichen haben vor der Pandemie von einer geminderten Lebensqualität, berichtet, während der zweiten Welle waren es dann 48 Prozent. 17 Prozent berichteten vor der Pandemie von psychischen Auffälligkeiten und 30 in der zweiten Welle. Ist das ein großer Anstieg?

Der Anstieg zu Beginn der Pandemie ist tatsächlich enorm hoch. Auch wir haben nicht damit gerechnet, dass sich die Belastungen so deutlich in unseren Daten erkennen lassen. Andererseits reagieren Kinder und Jugendliche sehr sensibel auf akute Veränderungen und die Veränderungen zu dieser Zeit waren wirklich enorm. Ein komplettes Leben hat sich im Grunde auf den Kopf gestellt. Und dass dann die Belastung in dieser akuten Krisensituation so hoch ist, das ist dann schon ein bisschen verständlicher.

Gehen Sie davon aus, dass die Corona-Pandemie auch heute noch die psychische Gesundheit junger Menschen beeinflusst?

Ich glaube, da spielt viel zusammen. Einerseits ist es uns als Gesellschaft noch nicht abschließend gelungen, die Folgen der Pandemie aufzuarbeiten, sodass wir sagen könnten, wir haben das jetzt überstanden. Andererseits sehen wir in unseren Daten, dass die Pandemie nicht mehr das Thema ist, das die Kinder und Jugendlichen vordergründig belastet, nur noch 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen berichten davon. 

Stattdessen sind es andere Themen wie die Klimakrise, die Kriege in Europa, im Nahen Osten oder wirtschaftliche Unsicherheiten, über die deutlich mehr Kinder und Jugendliche mittlerweile besorgt sind. Ich glaube aber, dass die Pandemie vor allem Kinder für diese Themen sensibilisiert hat. Die Pandemie war im Leben von jungen Menschen eine derart einschneidende Krise, dass sie aus diesem Krisenmodus nicht wieder herausgekommen sind. Es gab also kein richtiges Aufatmen nach der Pandemie, sondern wir sind sofort so in diese nächste Krise geraten.


Nun sind die genannten Kriege und Krisen für die meisten Jugendlichen hierzulande relativ weit weg, auch die Klimakrise ist aktuell für junge Menschen in Deutschland zumindest noch eher abstrakt. Wie wirkt sich das dennoch auf die mentale Gesundheit aus?

Erstmal ist festzuhalten, dass diese globalen Krisen die mentale Gesundheit definitiv beeinflussen, das sehen wir sehr deutlich. Wir sehen, dass Kinder und Jugendliche zunehmend sogenannte Zukunftsängste entwickeln, die sie mit den Krisen in der Welt in Verbindung setzen. Sie haben beispielsweise Sorge um ihre Umwelt, sie äußern aber auch Sorgen um ihre wirtschaftliche Zukunft, ihre Sicherheit. Das sind zum Teil wirklich existenzielle Sorgen, und diese wirken sich natürlich auf das Wohlbefinden aus. Hinzu kommt, dass Kinder im Grunde den ganzen Tag mit Krisennachrichten über soziale Medien konfrontiert werden. Auch wenn die Krisen irgendwie erst einmal weit weg erscheinen, sind sie über die sozialen Medien sehr präsent, was die Ängste verstärkt.

 

Was könnte Kindern und Jugendlichen helfen, mit globalen Krisen umzugehen?

Diese Krisen erzeugen bei den Kindern Gefühle von Ohnmacht und Hilflosigkeit. Und weil das recht abstrakte Bedrohungen sind, die für Kinder doch oftmals noch schwer greifbar sind, führt das eben zu diesen Ängsten und auch zu Unsicherheit. Kinder brauchen deswegen das Gefühl, dass sie selbst aktiv werden dürfen. Die Fridays-for-Future-Bewegung beispielsweise hilft den Kindern und Jugendlichen, sich den Krisen nicht so ausgesetzt zu fühlen, und für ihre Gesundheit und ihre Rechte einzustehen.

Im Hinblick auf die sozialen Medien ist das Stichwort Medienkompetenz ganz wichtig. Wir werden nicht verhindern können, dass Kinder über die sozialen Medien mit Krisennachrichten konfrontiert werden. Umso wichtiger ist es, Kindern schon früh Medienkompetenz beizubringen, und im Umgang mit solchen Nachrichten zu schulen; wie kann man zum Beispiel damit umgehen, verstörende Informationen in den sozialen Medien zu sehen? An wen kann man sich wenden? Gezielte Medienbildung und die Entwicklung von Medienkompetenz in den Schulen ist sehr wichtig und ein erster Schritt in die richtige Richtung.


In Ihrer Studie haben Sie zeigen können, dass soziale Faktoren eine große Rolle spielen. Beengter Wohnraum wird genannt, niedriges elterliches Bildungsniveau, aber auch Migrationshintergrund. Diese Faktoren erhöhen alle das Risiko für psychische Belastungen. Warum ist das so?

Wir sehen, dass es bestimmte Gruppen von Kindern und Jugendlichen gibt, die während der Pandemie weniger Ressourcen zur Verfügung hatten. Das sind häufig Kinder aus Familien gewesen, die auch vor der Pandemie schon belastet waren, vor allem Familien, in denen Belastungen kumulieren wie mangelnde finanzielle Ressourcen oder niedriges Bildungsniveau. Diese Ansammlung von Belastungsfaktoren führt zu einer erhöhten Belastung, außerdem lagen in diesen Familien gleichzeitig weniger Ressourcen vor, die in der Pandemie schützend oder stabilisierend wirken konnten. Wir wissen außerdem aus der Forschung, dass sich die Gesundheit der Eltern stark auf die Gesundheit der Kinder auswirkt. Wir beobachten also auch, dass es den Kindern psychisch schlechter geht, wenn ihre Eltern psychisch belastet oder erkrankt sind.


Und andersrum gefragt; welche Faktoren schützen die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen?

Das ist ein Thema, auf das wir viel lieber schauen. Wir wissen jetzt um die Belastungen von Kindern und Jugendlichen, wir wissen, welche Risikogruppen besonders stark gefährdet sind. Jetzt ist der nächste Schritt zu schauen, was schützt, und was stärkt. Und da sehen wir, dass es vielen Kindern während der Pandemie gut gelungen ist, mit den Belastungen umzugehen, und zwar immer dann, wenn sie über Ressourcen verfügten. Das sind zum Beispiel Kinder, die eine hohe Selbstwirksamkeitserwartung haben, also die innere Zuversicht, die innere Stärke, Herausforderungen aus eigener Kraft bewältigen zu können und die kann man durch spezielle Präventionsprogramme und Trainings stärken. Auf der anderen Seite haben wir gesehen, wie wichtig die Familie ist. Die Familie kann eine enorme Ressource sein, zumindest dann, wenn es innerhalb einer Familie ein gutes Klima und einen guten Zusammenhalt gibt und die Kinder und Jugendliche über Sorgen und Belastungen sprechen können. 

Zuletzt ist die soziale Unterstützung zu nennen, die Kinder durch Gleichaltrige erfahren. Es ist wahnsinnig wichtig, dass Kinder sich in ihrem sozialen Umfeld gut eingebunden fühlen, dass sie Freundschaften haben, die so vertrauensvoll sind, dass sie dort über Belastungen und Sorgen sprechen können. 

Welche Maßnahmen sind auf gesellschaftlicher Ebene denkbar und sinnvoll, um die mentale Gesundheit von Kindern und Jugendlichen zu unterstützen?

Wir müssen uns zunächst einmal klarmachen, dass die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen wichtig ist, und dass wir als Gesellschaft investieren müssen, damit es ihnen gut geht, vor allem finanziell. Akteuren, die auf politischer Ebene Entscheidungen treffen, muss bewusst sein, dass wir es uns im Grunde nicht leisten können, die psychische Gesundheit von Kindern nicht zu berücksichtigen. Wir sind darum sehr dankbar, dass unsere Forschungsergebnisse mittlerweile einen Eingang in politische Entscheidungen gefunden haben. 

Ganz konkret brauchen wir jetzt vor allem niedrigschwellige Präventionsangebote, die wirklich alle erreichen. Wir wissen, dass Kinder und Jugendliche aus sozial schwächeren Familien oft besonders stark betroffen sind, deswegen müssen diese Angebote unbedingt niedrigschwellig sein. Schulen bieten sich dabei als Orte für Gesundheitsförderung und Prävention an, weil hier im Idealfall alle Kinder und Jugendlichen erreicht werden können, ganz unabhängig von ihrer sozialen Herkunft. Es existieren zwar bereits Prävantionsangebote in einzelnen Schulklassen, diese sind aber nur temporär und erreichen einzelne Personen. Dazu gehört auch, dass allen Kindern und Jugendlichen in der Schule ein Zugang zu Schulsozialarbeit oder auch Schulpsychologie ermöglicht wird, was längst nicht der Fall ist. 


Gibt es aus Ihrer Sicht erfolgreiche Ansätze oder Länder, an denen man sich im Umgang mit der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen orientieren kann?

Ja, die gibt es, in Finnland zum Beispiel. Dort ist die schulische Gesundheitsförderung tatsächlich systematisch im Schulsystem verankert. Jede Schule hat ein multidisziplinäres Team, bestehend aus Schulgesundheitsfachkräften, Schulpsycholog*innen und Schulsozialarbeiter*innen. Dort fließen erhebliche Mittel in die Prävention, weil deren Relevanz erkannt wurde. In Kanada gibt es ebenfalls einige ganzheitliche Ansätze zur Schulgesundheit, die aktuell erprobt werden. Auch in Norwegen hat jede Schule zumindest Zugang zur Sozialarbeit und zu psychologischen Diensten.


Gibt es Befunde, die Sie persönlich besonders überrascht, beeindruckt, vielleicht sogar gefreut haben?

Ich glaube, mich hat vor allen Dingen beeindruckt, wie offen Kinder und Jugendliche über ihre Sorgen sprechen, wenn man sie gezielt danach fragt. Wir haben in unserem Fragebogen die Möglichkeit, am Ende nochmal in ein Freitextfeld etwas Eigenes einzutragen, und viele Kinder haben da wirklich reingeschrieben „Danke, dass mal jemand fragt, wie es mir geht“, sie haben also teilweise wirklich gerne über ihre Sorgen gesprochen. Das hat mich sehr gefreut und berührt.

Als Wissenschaftlerinnen hat uns natürlich ziemlich getroffen, wie viele Kinder von erheblichen Belastungen berichtet haben, ich finde es andererseits schon bemerkenswert, wie viele Kinder und Jugendliche Resilienz und auch Anpassungsfähigkeit gezeigt haben. Sie haben gezeigt, wie Solidarität in diesen Zeiten geht und es eben gar nicht in Frage gestellt, dass sie auf vieles verzichten mussten, um andere Bevölkerungsgruppen zu schützen. Das hat mich schon ein bisschen berührt.

Wer mehr über die Studie erfahren möchte, kann das hier.


Über die Autorin

Lale Ahmerkamp studiert Psychologie und beginnt im Oktober 2025 ihr Masterstudium. Schon im Bachelor setzte sie sich für Chancengleichheit und Teilhabe ein, u.a. bei Plan International e.V. als Leiterin der Ehrenamtsgruppe „Youth Advocates“, mit Projekten zu Flucht, Migration und (mentaler) Gesundheit. Sie begleitet ehrenamtlich Jugendliche auf dem Weg in den Beruf und gab bereits Workshops zu psychischer Gesundheit an Schulen. Ihr Praktikum in der Flüchtlingsambulanz des UKE war prägend: Sie lernte viel über die Herausforderungen junger Geflüchteter mit psychischen Erkrankungen. Lale ist überzeugt, dass psychische Gesundheit gesellschaftlich eingebettet sein muss – strukturelle Hürden im Zugang zur Versorgung motivieren sie, sich weiterhin für mehr Gerechtigkeit einzusetzen. Wir freuen uns sehr, Lale als Gastautorin mit an Bord zu haben!

Spenden

Lass uns Leben verändern!

Gemeinsam können wir viel bewegen: Unterstütze uns dabei, Jugendlichen in mental schwierigen Zeiten neue Perspektiven zu schenken. Mit Deiner Spende ermöglichst Du wirkungsvolle Hilfsangebote und schenkst Betroffenen eine bessere Zukunft.

Nichts mehr verpassen!

Abonniere Unseren Newsletter

Bleib immer up to date und verpasse keine spannenden News, Interviews und Angebote - mit unserem SOS Health Newsletter auf LinkedIn.